Interview von Inklusion Bayern mit dem Schulleiter Leonhard Blaum der ersten inklusiven Profilschule in Würzburg am Heuchelhof

Inklusion Bayern: Herr Blaum, Sie leiten eine der über 40 inklusiven Profilschulen in Bayern. Was ist in Ihrer mehrzügigen Grundschule anders?
Schulleiter Blaum: Wir haben an unserer Schule zwei Tandemklassen. Nachdem wir schon seit acht Jahren auf dem Weg zur inklusiven Schule sind, haben auch die anderen beiden Grundschulklassen tandemähnliche Voraussetzungen. Wir konnten diese Klassen ja nicht einfach auflösen. In fast allen weiteren Klassen gibt es einzelne Kinder, die im Rahmen der Einzelintegration gezielt Unterstützung erhalten. Klassenlehrer und der Sonderpädagoge bringen ihre Kompetenzen so ein, dass diese daraus zusammen "etwas Neues" entwickeln. Außerdem haben wir wie jede Profilschule Inklusion 10 Lehrerwochenstunden zusätzlich und eine halbe Sonderpädagogen-Stelle zusätzlich.

Inklusion Bayern: Sind 7 schwerbehinderte Kinder pro Klasse nicht zuviel?
Schulleiter Blaum: Die Kinder haben unterschiedliche Behinderungen. Was unter "schwerer Behinderung" zu verstehen ist, ist eine Festlegung, die sehr sensibel und verantwortungsbewusst von den beteiligten Lehrkräften und der Schulleitung getroffen werden muss. Da das Wohl des Kindes im Vordergrund steht, müssen sich alle Beteiligten fragen, in welcher Weise sie das Potential jedes Kindes fördern können. Deshalb kann es nur individuelle Lösungen geben, damit bei jedem Kind die Freude am Lernen erhalten bleibt. Die Anregungen werden dabei immer so gesetzt, dass die nächste Entwicklungsstufe für das Kind erreichbar wird.

Inklusion Bayern: Wie wird der zusätzliche Sonderpädagoge im Lehrerteam eingesetzt?
Schulleiter Blaum: Dieser ist ebenfalls mit seinen Stunden vorrangig im Unterricht in den Klassen eingesetzt, in denen Kinder einzelintegriert sind. Je nach der Situation arbeitet er auch in der Einzelförderung.

Inklusion Bayern: Die Sonderpädagogen werden von Förderschulen abgeordnet, welche Förderschwerpunkte haben sie?
Schulleiter Blaum: Die Sonderpädagogen werden von einer Förderschule abgeordnet und arbeiten nur noch ausschließlich an unserer Schule. Nach dem Beamtenrecht können sie immer nur für ein Jahr abgeordnet werden. Wenn sie aber an unserer Schule bleiben wollen, wird die Abordnung in der Regel verlängert. Die Sonderpädagogen können sich nicht auf einen Förderschwerpunkt einschränken, da viele Kinder verschiedene Förderbedarfe haben und ganzheitlich gefördert werden müssen. Die bisherige Abgren-zung zwischen den Förderschwerpunkten wird es in Zukunft so wohl nicht mehr geben.

Inklusion Bayern: Wodurch unterscheidet sich der inklusive Unterricht vom Unterricht in anderen Regelschulen?
Schulleiter Blaum: Wir unterrichten ebenfalls nach dem Regelschullehrplan. Natürlich versuchen wir, offene Unterrichtsformen zu verwirklichen, da dies "geistigen Überfliegern" genauso entgegenkommt wie Kindern mit Lernschwierigkeiten und Handicaps. Aber man muss wissen, dass offene Unterrichtsformen sehr anspruchsvoll sind. Hier sind klare Arbeitsstrukturen notwendig und das müssen die Schüler erst erlernen. Der offene Unterricht wird daher von der 1. langsam bis zur 4. Klasse gesteigert. Projektunterricht wurde auch schon immer praktiziert, dieser ist eine besonders anspruchsvolle Form des Unterrichts, da hier die Kinder ganz besonders ihre unterschiedlichen Fähigkeiten einbringen können. Deshalb bleibt er besonderen Anlässen vorbehalten!

Inklusion Bayern: Wenn in Gruppen differenziert wird, werden dann eher leistungshomogene oder eher leistungsheterogene Gruppen gebildet?
Schulleiter Blaum: In leistungshomogenen Gruppen fehlen die Zugpferde. Daher sind leistungsheterogene Gruppen besser. Man darf sich das aber nicht so vorstellen, dass einige Kinder in allen Bereichen leistungsstark sind, während andere Kinder in allen Bereichen leistungsschwach sind. Jedes Kind hat Stärken und Schwächen, daher können die Kinder in leistungsheterogenen Gruppen meist auch unterschiedliche Rollen einnehmen. Die Gruppenbildung braucht klare Strukturen.

Inklusion Bayern: Können die Sonderpädagogen im Haus dann alle Förderbedarfe der Kinder abdecken?
Schulleiter Blaum: Es gibt sehr spezielle Behinderungsformen, bei denen zusätzlich ein MSD notwendig ist, wie z.B. für hörbehinderte Kinder.

Inklusion Bayern: Bereiten die Lehrer ihren Unterricht gemeinsam vor?
Schulleiter Blaum: An unserer Schule gab es schon immer regelmäßige Jahrgangsbesprechungen zur Vorbereitung des Unterrichts. Zusätzlich sind nun in den Tandemklassen monatliche Teambesprechungen dazugekommen. Schulübergreifend organisiert nun die Regierung von Unterfranken auch regelmäßige Treffen aller inklusiven Profilschulen des Regierungsbezirks. Außerdem lädt das Institut für Schulqualität und Bildungsforschung Vertreter der Schulen mit Tandemklassen zu Treffen ein.

Inklusion Bayern: Wäre es nicht auch für die Schulen, die nur einzelintegrierte Kinder oder Kooperationsklassen haben notwendig, sich mit Schulen auszutauschen, die schon mehr Erfahrung mit Inklusion haben?
Schulleiter Blaum: Jede Schule kann auch selbst initiativ werden, statt nur zu warten, was angeboten wird. Jede Schule kann sich an andere Schulen wenden und sich um Hospitationen und Erfahrungsaustausch bemühen. Ich habe auch Schulen in Deutschland und im Ausland besucht und so Erfahrungen gesammelt. Der Prozess geht weiter und weitere Schulen, sicher auch aus Würzburg, werden folgen.

Inklusion Bayern: Wie geht es für die behinderten Kinder nach der Grundschule weiter?
Schulleiter Blaum: Die Kinder mit Handicap gehen nach der Grundschulzeit in Würzburg an verschiedene Schulen, darunter auch an verschiedene Sonderschulen. Auch die Mittelschulen sind angefragt und machen sich auf den Weg. Inklusion kann aber nicht nur Aufgabe der Grund- und Mittelschule sein.

Inklusion Bayern: Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrern an der Schule aus? Finden bei behinderten Kindern mehr Elterngespräche statt?
Schulleiter Blaum: In unserer Schule kommen 99% der Eltern alle zwei Monate in die Sprechstunden, unabhängig davon ob die Kinder behindert sind oder nicht.

Inklusion Bayern: Welches zusätzliche Personal haben Sie außer Lehrer?
Schulleiter Blaum: Wir haben an der Schule einen Förderverein. Dieser beschäftigt im Auftrag der Eltern Schulbegleiter für die Kinder, die einen solchen brauchen. Wir haben etwa 20 verschiedene Personen von wenigen Stunden pro Woche bis Vollzeit angestellt. Ich achte darauf, dass die Schulbegleiter alle in irgendeiner Form qualifiziert sind, z.B. als Erzieher, Physio- und Ergotherapeuten und Heil- und Sozialpädagogen. Leider bekommen diese derzeit nicht mehr Gehalt als der Bezirk auch für unqualifizierte Kräfte einsetzt. Für die Ferien kann keine Bezahlung erfolgen.

Inklusion Bayern: Welche Verbesserungen würden Sie sich bei den Schulbegleitern wünschen?
Alle Beschäftigten, die in einer Schule arbeiten, sollen langfristig auch dem Kultusministerium unterstellt sein. Allerdings muss die Auswahl des Personals in der Verantwortung der Schulleitung bleiben.
Vorstellbar ist auch, dass die Kommune als Sachaufwandsträger z. B. die Schulbegleiter anstellt. Wichtig ist, dass es in jedem Fall kurze Verwaltungswege gibt, weil ja die Beschäftigungsverhältnisse in der Regel nur für ein Schuljahr bestehen. Für die Umsetzung der Inklusion vor Ort werden die Kommunen unverzichtbar sein. (vgl. z. B. als Literatur: „Inklusion vor Ort. Der kommunale Index für Inklusion – ein Praxishandbuch.“)
Im Sinne der Inklusion ist es auch erforderlich, dass Schulbegleiter gruppenorientiert arbeiten können. Es stellt sich in der Praxis auch die Frage, ob nicht längere Zeiträume bei der Genehmigung machbar sind bzw. ein Stundenpool der Schule zur Verfügung gestellt wird. Alle Beteiligten werden dabei in Zukunft noch viele Erfahrungen sammeln müssen.

Inklusion Bayern: Welche konkrete berufliche Qualifikation sollte das zusätzliche Personal an der Schule haben?
Schulleiter Blaum: Erfahrungen mit behinderten Kindern sind sicher sehr hilfreich, eine pädagogische Ausbildung und basale Kenntnisse über die verschiedenen Behinderungsarten wären im Hinblick auf die Entwicklung der Kinder sinnvoll (vgl. die Praxis z. B. in Südtirol). Aus der Praxis heraus kann es keine einheitliche Lösung geben. Genauso unterschiedlich wie die Kinder sollte auch das Personal sein. Wichtig ist Lebenserfahrung.

Inklusion Bayern: Werden in Ihrer Schule behinderte Kinder verstärkt von anderen Kindern ausgegrenzt? Wie sieht die Arbeit der Sozialpädagogen aus?
Schulleiter Blaum: Wir haben an unserer Schule Kinder mit unterschiedlichstem Migrationshintergrund. An unserer Schule gibt es keine Ausgrenzung, die Kinder gehen mit allem ganz selbstverständlich um. Wenn es doch in einzelnen Klassen mal Probleme gibt, geht ein Sozialpädagoge in der Klasse und arbeitet mit den Kindern z.B. nach dem Projekt "Faustlos".

Inklusion Bayern: Machen die Eltern der vierten Klasse verstärkt Probleme wegen der Inklusion?
Schulleiter Blaum: Nein. Inklusion bedeutet ja auch die individuelle Förderung jedes Kindes. Insofern bieten z. B. Tandemklassen besondere Möglichkeiten einer umfassenden Unterstützung. Außerdem erwerben alle Kinder Kompetenzen im Umgang untereinander, die sie in anderen Klassen nicht erwerben können.

Inklusion Bayern: Herr Blaum, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Würzburg, den 12.6.2012: Die Fragen stellten Irene Oertel und Christine Primbs.


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